Der Kampf gegen den Parlamentarismus <span class="pagenumber">[106]</span>

195 In Wirklichkeit entsprach die deutsche parlamentarische Repräsentanz während Hitlers Zeit in Wien ziemlich genau dem demografischen Anteil der Deutschen in der westlichen Reichshälfte. Die deutschen Parteien im Reichsrat verfügten nach wie vor über eine sehr starke Position; nach der Wahlrechtsreform von 1907 lag sie bei 45,2 %. Während der Jahre zuvor waren die Deutschen durch das undemokratische Wahlrechtssystem auf eine Weise privilegiert worden, die sich politisch immer weniger rechtfertigen ließ. Mit einer »Vernichtung des deutschen Volkes« hatte die Reform des Wahlrechts nichts zu tun. Das Problem war vielmehr, dass die sehr heterogenen deutschen Parteien und Fraktionen nicht in dem Maß im Reichsrat miteinander kooperierten, wie dies andere Ethnien taten, und überdies nicht bereit waren, die Möglichkeiten des parlamentarischen Systems zu nutzen. Stattdessen beteiligten sich so gut wie alle deutschen Parteien an der allgemeinen Obstruktionspolitik, die seit der Badenischen Sprachenverordnung (1897) den Reichsrat zunehmend lahmlegte. Initiatoren waren die Deutschfortschrittlichen und die Schönerianer; die übrigen deutschen Parteien schlossen sich, anfangs zögerlich, an. Lediglich die Christlichsozialen, die an sozialpolitischen Erfolgen interessiert waren, hielten sich eher zurück. Dass sich vor diesem Hintergrund auch die nichtdeutschen Parteien – etwa die Polnische Volkspartei, die Ruthenen und ein Großteil der Italiener, seit 1899 auch die Jungtschechen – an der Obstruktion beteiligten, war kein Wunder. Letzten Endes schlugen damit alle Parteien, und gerade auch die deutschen, die bescheidenen parlamentarischen Möglichkeiten, die ihnen die österreichische Verfassung damals bot, in den Wind.

Vgl. Die Ergebnisse der Reichsratswahlen in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern im Jahre 1911, S. 6 f.; Sutter, Stellung, Zitat S. 299; Urbanitsch, Nationalisierung, S. 119 – 125; Urbanitsch, Krise, S. 125 – 137; Sutter, Reichsrat, bes.S. 68 – 72; Hamann, Wien, S. 169 – 193; Höbelt, Parteien, S. 954 – 1006; Kap. I/2, Anm. 89, 91; Anm. 60, 77 in diesem Kapitel.

Aus diesem Fehler erwuchs ihr aber die zweite Ursache des schnellen Unterganges# 1933: Unterganges ersetzt durch: Untergangs;
1944: Unterganges .

Die Lage in Österreich für das Deutschtum war zur Zeit des Auftretens der alldeutschen Bewegung schon verzweifelt. Von Jahr zu Jahr war das Parlament mehr zu einer Einrichtung der langsamen Vernichtung des deutschen Volkes geworden.195 Jeder Versuch einer Rettung in zwölfter Stunde konnte nur in der Beseitigung dieser Institution eine wenn auch kleine Aussicht auf Erfolg bieten.

Damit trat an die Bewegung eine Frage von prinzipieller Bedeutung heran:

Sollte man, um das Parlament zu vernichten, in das Parlament gehen, um dasselbe, wie man sich auszudrücken pflegte, »von innen heraus auszuhöhlen«, oder sollte man diesen Kampf von außen angriffsweise gegen diese Einrichtung an und für sich führen?196

Man ging hinein und kam geschlagen heraus.

Freilich, man mußte hineingehen.

Den Kampf gegen eine solche Macht von außen durchführen, heißt sich mit unerschütterlichem Mute rüsten, aber auch zu unendlichen Opfern bereit sein. Man greift den Stier damit an den Hörnern an und wird viele schwere Stöße erhalten, wird manchmal zu Boden stürzen, um sich vielleicht einmal nur mit gebrochenen Gliedern wieder erheben zu können, und erst nach schwerstem Ringen wird sich der Sieg dem kühnen Angreifer zuwenden. Nur die Größe der Opfer wird neue Kämpfer der Sache gewinnen, bis endlich der Beharrlichkeit der Lohn des Erfolges wird.197

Dazu aber braucht man die Kinder des Volkes aus den breiten Massen.

Sie allein sind entschlossen und zähe genug, diesen Streit bis zum blutigen Ende durchzufechten.198

Diese breite Masse aber besaß die alldeutsche Bewegung eben nicht; so blieb ihr auch nichts anderes übrig, als in das Parlament zu gehen.

Es wäre falsch, zu glauben, daß dieser Entschluß das Ergebnis langer innerer seelischer Qualen oder auch nur Überlegungen gewesen wäre; nein, man dachte an gar nichts anderes. Die Teil-