Das Deutschtum in Österreich <span class="pagenumber">[71]</span>

21 Als »Kronländer« wurden seit dem späten 18. Jahrhundert generell alle Länder der Habsburgermonarchie bezeichnet, ab 1804 dann die Gebietsteile des Kaisertums Österreich. Seit dem Ausgleich von 1867 hießen so die Gebiete von Cisleithanien, der westlichen Reichshälfte der Doppelmonarchie. Dazu gehörten das Königreich Böhmen, das Herzogtum Bukowina, das Herzogtum Kärnten, das Herzogtum Krain, das Königreich Dalmatien, das Königreich Galizien und Lodomerien, die gefürstete Grafschaft Görz und Gradisca, die Markgrafschaft Istrien und die reichsunmittelbare Stadt Triest, das Erzherzogtum Österreich unter der Enns, die Markgrafschaft Mähren, das Herzogtum Salzburg, das Herzogtum Ober- und Niederschlesien, das Herzogtum Steiermark, die gefürstete Grafschaft Tirol, das Land Vorarlberg sowie das Erzherzogtum Österreich ob der Enns.

Vgl. Brauneder, Verfassungsentwicklung, S. 72 – 78, 206; Kap. I/2, Anm. 39.

22 Schon in der Frankfurter Nationalversammlung 1848 herrschte Uneinigkeit darüber, wie weit die zum Deutschen Bund gehörenden habsburgischen Kronländer und Gebiete in einem gemeinsamen Deutschen Reich aufgehen könnten. In den Jahren danach lähmte der österreichischpreußische Dualismus die deutsche Politik und verhinderte eine Lösung der »deutschen Frage«. Mit der österreichischen Niederlage im Deutschen Krieg (1866) übernahm Preußen endgültig die Führungsrolle in Deutschland. Damit war zugleich die Entscheidung für eine »kleindeutsche« Lösung gefallen.

Vgl. Hillgruber, Außenpolitik, S. 9 – 86; Zöllner, Perioden, S. 27 f.; Nipperdey, Geschichte 1800 – 1866, S. 320 – 402, 595 – 790; Brauneder, Verfassungsentwicklung, S. 94 – 106; Gruner, Bund, S. 62 – 108; Kap. I/10, Anm. 6; Kap. II/8, Anm. 12.

24 Unter dem Aspekt der Sozialstatistik stellt Hitler hier eine Verbindung zwischen zwei Berufsgruppen her, die so nicht zueinander gehören. Das Kennzeichen der Unternehmer, teilweise auch der Ingenieure, war gerade ihre institutionelle und finanzielle Unabhängigkeit, während die Beamten stets Teil eines Apparats blieben, der auf den Prinzipien von Weisung und Gehorsam basierte. Aufgrund des vorliegenden Zahlenmaterials lässt sich sicher sagen, dass die Deutschen in Cisleithanien in den Sparten Industrie und Gewerbe mit 50,2 % (1900) bzw. 47,9 % (1910) sowie Handel und Verkehr mit 47,4 % (1900) bzw. 46,3 % (1910) klar dominierten. Ende der 1870er Jahre lassen sich im westlichen Teil Österreich-Ungarns etwa 2.500 Personen feststellen, die einen Posten als Mitglied eines Verwaltungsrats einer Aktiengesellschaft innehatten, während »nur ca. hundert mehr als drei solcher Funktionen bekleideten. In der weitaus überwiegenden Mehrzahl können diese Wirtschaftsführer den Deutschen zugerechnet werden […]. Ein nicht geringer Teil dieser wirtschaftlich führenden Unternehmerschaft war aus Deutschland oder aus dem Westen Europas eingewandert; unter diesen spielte das jüdische, aber auch das protestantische Element eine große Rolle.« Ein weiterer Beleg für die wirtschaftlich führende Stellung der Deutschösterreicher in Cisleithanien liefert das Steueraufkommen: Im Jahr 1900 belief sich hier die Steuerleistung auf 205.583.280 Kronen (63,4 %). Zu beachten ist dabei, »daß sich die Juden in weitaus überwiegendem Maße zur deutschen Umgangssprache bekannten«.

Vgl. Urbanitsch, Deutschen, S. 33 – 37, 108 – 149, Zitat S. 126, 148. Zur Rolle der Deutschösterreicher im k. u. k. Beamtenapparat

vgl. Anm. 30 in diesem Kapitel.

26 Bemerkenswert ist die Ambivalenz von Hitlers Darstellung: Befindet sich der Außenhandel in deutscher Hand, so wird dies als Zeichen von Tüchtigkeit gewertet; ist er in jüdischer Hand, gilt das als Beweis für Niedertracht. Allerdings vertraten damals nicht nur bildungsferne antisemitische Verschwörungstheoretiker die These eines dominanten jüdischen Einflusses auf die Wirtschaft, sondern auch Gelehrte. Ein besonders markantes Beispiel dafür ist die Schrift Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) des Soziologen und Nationalökonomen Werner Sombart. Sombart interpretierte den modernen Kapitalismus als ein genuin jüdisches Phänomen: Die Entstehung eines modernen Weltmarkts, die Kolonialwirtschaft, die Börse wie überhaupt die ökonomischen Grundlagen des modernen Staats hielt er für ein Werk »der« Juden, die gleichsam den kapitalistisch-kaufmännischen Geist eingeführt hätten. Sein Buch wurde rasch ein breit rezipierter »Klassiker«. Da Sombart auch in seinen Vorträgen immer wieder von einer »jüdischen Nation« und einer »jüdischen Rasse« sprach und den volkswirtschaftlichen Nutzen des »jüdischen Händlergeistes« hervorhob, erhielt er auch von zionistischen Juden Beifall. Harsche Kritik erntete er hingegen bei assimilierten liberalen Juden, die sich nicht als eigene »Nation« oder »Rasse« ausgrenzen lassen wollten, sowie bei Antisemiten, die Sombart als »Juden-Professor« diffamierten.

Vgl. Sombart, Juden, S. 183 – 334; Schrönghamer-Heimdal, Judas, S. 27; Fritsch, Gott, S. 158; Ahlheim, Judenzählung; Lenger, Sombart (2012), S. 187 – 218; Berg, Juden.

28 Der Charakter der k.(u.)k. Armee galt zwar als deutsch, doch betraf das vor allem das Offizierkorps. Bei den Unteroffizieren und Mannschaften war diese Armee mit ihrem Friedensstand von 415.000 Mann so multiethnisch wie die Gesellschaft, aus der sie sich rekrutierte: 1906 kamen auf 1.000 Wehrpflichtige 267 Deutsche, 223 Ungarn, 135 Tschechen, 85 Polen, 81 Ruthenen, 67 Kroaten und Serben, 64 Rumänen, 38 Slowaken, 26 Slowenen und 14 Italiener. Allein der Eid wurde in zehn verschiedenen Sprachen abgelegt. Hinzu kamen Unterschiede in Religion, Bildung und sozialem Stand. Die Führung versuchte, die Truppe gegenüber den nationalen und politischen Konflikten zu immunisieren. Die Einheiten rekrutierten sich daher gewöhnlich aus mehr als einer Nationalität. Von den 102 Infanterie-Regimentern waren nur sieben rein deutschsprachig. Meist waren zwei, teilweise bis zu fünf verschiedene Nationalitäten in einer Einheit vertreten. 1901 nutzten von 256 Einheiten des k. u. k. Heeres lediglich 94 eine gemeinsame Sprache, 133 waren zwei-, 28 sogar drei- oder viersprachig. Auch die Lage der Garnisonen in oft entlegenen, schwer erreichbaren Ortschaften sowie die häufigen Versetzungen sollten der Kontrolle dienen.

Vgl. Allmayer-Beck, Armee, S. 121 – 243; Rothenberg, Army, S. 123 – 138; Allmayer-Beck, Macht, S. 89 – 99, 103, 111; Rauchensteiner, Weltkrieg, S. 51 – 63. 

29 1911 standen 15.608 Subaltern und 2.203 Stabsoffiziere sowie 245 Generäle im aktiven Dienst der k. u. k. Armee. In ihrer Mehrheit waren diese Offiziere tatsächlich deutsch: 72 % bei der Infanterie, 67 % bei der Kavallerie und 88 % bei der Artillerie. Zudem waren 86 % aller Offiziere katholisch. Schon deshalb fühlte sich die Führung der Armee als ein Hort der Kaisertreue und des Bekenntnisses zur österreichischen Staatsidee. Jener bekannte Vers: »In Deinem Lager ist Österreich«, den Franz Grillparzer 1848 dem Feldmarschall Radetzky gewidmet hatte, hatte zumindest für das k. u. k. Offizierkorps nichts an Bedeutung verloren. Etwa 60 % der Offiziere rekrutierten sich aus den Kadettenschulen, die übrigen aus dem Stand der Einjährig-Freiwilligen sowie aus den Militärakademien. Anders als in Preußen war die Offizierslaufbahn für den Adel, insbesondere die Hocharistokratie, wenig attraktiv, sodass in Österreich-Ungarn die militärische Elite vor 1914 zunehmend verbürgerlichte.

Vgl. Militärstatistisches Jahrbuch für das Jahr 1911 (1912), S. 186 f.; Allmayer-Beck, Armee, S. 169 – 192, Zitat S. 35; Allmayer-Beck, Macht, S. 99 – 110; Brandstätter (Hrsg.), Wien, S. 323 f.; Kronenbitter, Krieg, S. 17 – 77, bes.S. 19 f.

30 Der höhere Beamtenapparat der Habsburgermonarchie rekrutierte sich in seiner Mehrheit traditionell aus Deutschösterreichern: 1835 hatten diese 60 % der führenden Staatsämter inne und noch um 1910 bekannten sich 46,1 % der Angehörigen des »Hof-, Staats- und öffentlichen Dienst[s]« zur deutschen Sprache. Auch bei den nichtdeutschen Beschäftigten des öffentlichen Diensts handelte es sich über lange Zeit primär um Personen, die, »wenn sie auch ihre ursprüngliche Nationalität nicht vollkommen aufgaben«, sich zu Österreichern entwickelten, die »sich der deutschen Sprache als Vermittlungssprache bediente[n] und widerspruchslos die deutsche Kultur […] in sich aufnahm[en]«. Erst mit dem zügigen Ausbau dieses Beamtenapparats – 1870 gab es rund 80.000, um 1910 schließlich etwa 400.000 Beamte im Staatsdienst – begann sich dies zu ändern. Obwohl die Neuordnung von Laufbahn und Besoldung den Lebensunterhalt, die Karrierechancen und auch das Prestige des von Hitler gehassten Beamtenstands verbesserte, wurden seine Angehörigen zunehmend vom Nationalismus der nichtdeutschen Nationen erfasst.

Vgl. Kleinwaechter, Untergang, Zitat S. 243 f.; Urbanitsch, Deutschen, Zitat S. 109; Eigner, Dienstleistungssektor, S. 439 – 444; Nipperdey, Geschichte 1800 – 1866, S. 337.

31 Sich in eine Aufzählung der vielen bedeutenden nichtdeutschen Künstler und Wissenschaftler Österreich-Ungarns zu verlieren, würde das Format einer Anmerkung sprengen – erinnert sei nur an Komponisten wie Antonín Dvořák und Bedřich Smetana, an Mediziner wie Edward Babák und Ignaz Semmelweis sowie an Erfinder wie Ányos Jedlik und Nikola Tesla, dessen Durchbruch dann freilich in den USA stattfand. Auch ein Blick auf die Nationalität der Studierenden in Wien belegt die mangelnde Differenziertheit von Hitlers Behauptung. So kamen etwa im Wintersemester 1900/01 von den 10.206 Studierenden an den acht Wiener Hochschulen 8.238 aus den österreichischen Ländern, davon 1.198 aus Mähren, 923 aus Böhmen, 656 aus Galizien, 193 aus Dalmatien und 172 aus der Bukowina. 760 Studenten stammten aus den ungarischen Reichsteilen, weitere 64 aus Bosnien und Herzegowina. Aufschlussreich sind auch die Angaben über die Religion der damaligen Studenten: 6.194 waren katholischen, 334 griechisch-orthodoxen, 568 evangelischen und 2.271 jüdischen Glaubens – auch dies ein klarer Hinweis auf den großen jüdischen Beitrag zur Kultur und zur Wissenschaft Österreich-Ungarns vor 1914. 

Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1900 (1902), S. 392. 

32 Hitlers despektierlich gemeinte Gleichsetzung von moderner und afrikanischer Kunst ist eine Reaktion auf deren »Entdeckung« durch die europäische Kunstszene im frühen 20.  Jahrhundert. Ethnologische Museen, etwa das 1873 in Berlin gegründete Museum für Völkerkunde, aber auch sogenannte Missionsmuseen, widmeten afrikanischer Kunst immer wieder Ausstellungen. Die Objekte galten – zumindest einem Teil der Zeitgenossen – als urwüchsig, ursprünglich und nur dem Wunsch nach künstlerischem Ausdruck verpflichtet. Gerade für den Kubismus und den Expressionismus wurde der Kontakt mit afrikanischer Kunst zu einer wegweisenden Erfahrung. Ein wichtiger Impuls für die theoretische Beschäftigung kam von dem deutsch-jüdischen Kunsthistoriker Carl Einstein, dessen Schrift Negerplastik (1915) eine der ersten grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit afrikanischer Kunst war, bei der nicht ethnologische, sondern ästhetische Gesichtspunkte und die Frage nach ihrem Einfluss auf die moderne europäische Kunst im Mittelpunkt standen. Dies provozierte heftige Kritik seitens der konservativen Kunsttheorie, welche die afrikanische Kunst pauschal als »primitiv« diffamierte.

Vgl. Rubin (Hrsg.), Primitivismus; Heisserer, Problem, S. 31 – 38; Kap. I/10, S. 273 sowie die dortige Kommentierung.

33 Wien war der unangefochtene kulturelle Mittelpunkt der Habsburgermonarchie. Am Ende des 19. Jahrhunderts existierten allein sechs Hochschulen in Wien; neben der Universität mit 7.026 Studierenden (Wintersemester 1896/97), die Technische Hochschule (1.528 Studierende), die Hochschule für

Bodencultur (309 Studierende), die Akademie der bildenden Künste (251 Studierende), die evangelisch-theologische Facultät (30 Studierende) und die Israelitisch-theologische Lehranstalt (36 Studierende). Unter den damals 18 Wiener Mittelschulen gab es 14 Gymnasien mit zusammen 5.242 Schülern, ein Realgymnasium mit 400 Schülern sowie 13 Realschulen mit insgesamt 4.782 Schülern. Des Weiteren besuchten 549 Schülerinnen das Mädchengymnasium oder eines der vier Lyceen, 666 Mädchen waren an weiteren 15 Höheren Mädchenschulen angemeldet. Wiens kulturelle Vielfalt zeigte sich auch im Konservatorium für Musik und darstellende Kunst (901 Schülerinnen und Schüler), vor allem aber in den neun Theatern, über die Wien 1896 verfügte; deren Bedeutung lässt eine Bemerkung des Wiener Schriftstellers Hermann Bahr erahnen, der den Wiener als ein »im Theater lebendes Wesen« bezeichnete. Ein 1904 erschienener Reiseführer sprach sogar von zwölf Schauspielhäusern und verwies auf den »weit verbreitete[n] und wohlbegründete[n]« Ruf Wiens »als musikalische Stadt«. Zur Wiener Kultur gehörte darüber hinaus ein hoch entwickeltes Pressewesen: 1900 erschienen nicht weniger als 20 Tageszeitungen unterschiedlichster politischer Ausrichtung in Wien, ihre Zahl stieg bis 1914 – je nach Quelle – auf 23 bzw. 29 Titel. Entsprechend groß waren die Wirkungen, die von diesem kulturellen Mikrokosmos ausgingen; Wien zog »wie ein Magnet namhafte Vertreter der Moderne in der bildenden Kunst Europas an«. Maler und Architekten wie Gustav Klimt, Egon Schiele, Oskar Kokoschka und Otto Wagner prägten den »Wiener Kunstfrühling« der Jahre 1898 bis 1905. Über die kulturelle Bedeutung Wiens schrieb Werner Sombart im Jahr 1907: »Wien hat Kultur. Ich sage nicht einmal ›alte‹ Kultur schlechthin. […] Wien ist Musik. Ist Harmonie. Und also wieder Kultur, Ganzheit, Ausgeglichenheit. […] Wien ist uns – um kantisch zu sprechen – die regulative Kulturidee: an Wien und Wiener Art orientieren wir uns, wenn wir wissen wollen, was Kultur ist.«

Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1896 (1898), S. 30, 356 f., 363, 370, 459; Zeitungskatalog Rudolf Mosse, Annoncen-Expedition, Bd. 33 (1900), Sp. 60; Bd. 47 (1914), S. 95 – 97; Wien. Illustrierter Wegweiser, S. 18 f., Zitat S. 19; Goldstein, Jahre, S. 288; Sagl, Tageszeitungen; Nebehay, Wien, Zitat S. 8; Brandstätter (Hrsg.), Wien, S. 321 – 333, 343 – 361; Maderthaner, Zeit, S. 249 – 257, Zitat S. 249.