Typografie und visuelle Gestaltung
von Rudolf Paulus Gorbach

Komplexe Buchtypografie

Ein Editionsprojekt wie dieses ist auch eine Herausforderung an die Typografie und die Buchgestaltung: Die Textvorlage ist mit einer dichten Kommentierung, mit Kapitel-Einleitungen und mit einem Textabgleich zusammenzubringen. Zwar ist die Darstellung komplexer Inhalte im Schriftsatz oder in Büchern ein sehr altes Thema, doch gestatten die technischen Möglichkeiten infolge des elektronischen Satzes mittlerweile ganz neue Formen der Gestaltung. [Diese auch in der digitalen Ausgabe darzustellen bedeutete eine zusätzliche und ganz neue Herausforderung.] Dabei geht es weniger um ein Ausreizen von Technik, entscheidend ist vielmehr nach wie vor die grafische Klarheit einer in mancherlei Hinsicht schwierigen Edition, die möglichst viele Benutzer und auch Leser finden soll. Durch das unkonventionelle Layout dieser Edition entsteht eine hohe Komplexität. Diese hat allerdings zahlreiche, zum Teil prominente Vorläufer [in der Geschichte der Buchgestaltung]. Bereits in kommentierten Bibeln, wissenschaftlichen Werken und auch im Talmud finden sich besonders markante Formen einer Buchseite, welche die Lektüre durch die Gestaltungsmöglichkeiten von Anordnung und Größe so weit wie möglich erleichtern sollen. Immer geht es um dieselben Prinzipien: Lesbarkeit, Benutzbarkeit sowie leichtes Suchen und Finden vielfältiger Informationen. So zeigt etwa die Doppelseite der jüdischen Bibel von 1546 aus Venedig den Anfang des Buchs baMidbar (In der Wüste). Die Seitenaufmachung stammt von dem flämischen Drucker Daniel Bomberg und gilt noch heute als maßgebend für den Druck hebräischer Bibeln. Es gibt Vokal- und Kantilationszeichen, innen sind Auslegungen abgedruckt, außen die aramäische Übertragung und ganz außen rechts eine andere Auslegung. Die Form hat sich bewährt und wurde auch in der Talmud-Ausgabe übernommen, die 1979 von Adin Steinsalz herausgegeben wurde, wenngleich sie sich in Details auf das moderne Layout des 20. Jahrhunderts eingestellt hat.

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Jüdische Bibel, 1546 Venedig

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Talmud 1979 Jerusalem

Gerade in der Zeit des Humanismus waren solche Buchformen äußerst hilfreich und praktisch. Es entstand eine intensive Zusammenarbeit zwischen Autoren, Herausgebern, Verlegern und Typografen. So diskutierte etwa Erasmus von Rotterdam in allen Details die richtige Typografie sowie den guten Druck. Als Schrift bevorzugte er die Antiqua, die aus der karolingischen Minuskel entwickelt wurde. Das Beispiel aus Lob der Torheit, 1515 bei Froben in Basel gedruckt, zeigt Text, Kommentar, Kolumnentitel, Kustos, Überschriften und an der Marginalie eine Randzeichnung von Hans Holbein dem Jüngeren.

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Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit. Basel 1515

Doch auch aus jüngerer Zeit gibt es Beispiele, die für eine komplexe wissenschaftliche und vor allem lesbare visuelle Interpretation wesentliche Voraussetzungen bieten. So vereint die 1986 erschienene Frankfurter Ausgabe der Werke Friedrich Hölderlins, die von Dietrich E. Sattler herausgegeben wurde, das Original Hölderlins als Faksimile und gibt in adäquater Weise den Text typografisch wieder. In der gesetzten Ausgabe von Arno Schmidts Zettel’s Traum (2013) sind verschiedene Textebenen und Marginalien miteinander verflochten. Dort stammen die Kommentare aber bereits vom Autor selbst.

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Arno Schmidt: Zettel’s Traum 2013

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Unger-Fraktur 1793

Zur Textschrift in Hitlers »Mein Kampf«

Der Franz-Eher-Verlag hat für Mein Kampf die Textschrift Unger-Fraktur gewählt. Diese Schrift war damals bei Verlagen und Setzereien beliebt und gehörte bei den Textschriften zu den Standards. Beim Vergleich von verschiedenen Ausgaben von Mein Kampf ergeben sich bezüglich der Satztechnik kleine Unterschiede. Vermutlich wurde der Text des Öfteren neu gesetzt; schließlich hält der Bleisatz nur eine bedingte Anzahl von Drucken aus.

Die Stempel und Matrizen der Unger-Fraktur wurden bereits 1794 von Johann Friedrich Unger geschaffen, einem Buchdrucker, Schriftgießer und Verleger aus Berlin. Dahinter stand die Absicht, eine Fraktur dem zeitgenössischen, klassizistischen Stil näherzubringen. Dabei wurden die Kleinbuchstaben – im Vergleich zu der klassizistischen Schrift Didots – stärker an die damals verachtete Schwabacher (Muzika) angelehnt. Das vergrößerte den Kontrast zwischen den Haarstrichen und den kräftigen Strichen und machte auf diese Weise das Schriftbild insgesamt lichter. 1875 wurde die Unger-Fraktur bei der Leipziger Druckerei W. Drugulin, damals eine der namhaftesten deutschen Druckereien, benutzt; seitdem hat sie über verschiedene Schriftgießereien und Versionen die Zeiten überdauert. Sie findet sich in einer Monotype-Version noch im letzten Katalog der Offizin Andersen Nexö, der Vorzeigedruckerei der DDR.

Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts stritten Autoren, Verleger und Buchdrucker darüber, ob als Druckschrift Fraktur oder Antiqua gewählt werden solle. Obwohl die Frakturschrift für ältere Druckschriften heute typisch erscheint, lag der Anteil der Bücher, die in der besser lesbaren und »moderneren« Antiqua gedruckt wurden, 1929 bereits bei 40 Prozent. Im Dritten Reich setzte sich der Trend zur Umstellung auf Antiqua fort, nicht zuletzt mit Blick auf die Publikationen für das Ausland, dessen Publikum im Lesen gebrochener Schriften meist ungeübt war. Erste Ausgaben von Mein Kampf wurden bereits 1939 aus einer Antiqua gesetzt, also noch vor Hitlers Anordnung vom Januar 1941, »die Antiqua-Schrift künftig als Normalschrift«460 zu behandeln. Vor diesem Hintergrund erscheint es umso unverständlicher, dass gebrochene Schriften heute oft noch als »Nazi-Lettern« gelten. Wie unzutreffend das ist – auch in ästhetischer Hinsicht –, zeigt Judith Schalanskys Fraktur mon Amour.

Mein_Kampf_1925_Bd.1_(2).jpgBd._1,_S._1_(1930).jpg6.2_Mein_Kampf_1933_(3).jpgBd._1,_S._1_(1937).jpg6.3_Mein_Kampf_1934_(3).jpgMein_Kampf_1936_(3).jpg6,5_Mein_Kampf_1939_(4).jpgBd._1,_S._1_(1940).jpgED_1943_0000_0000_0003.jpg

Druck- und Schriftver­gleich der Ausgaben von Mein Kampf von 1925, 1930, 1933, 1934, 1936, 1937,
1939, 1940, 1943

Entwicklung der Typografie für die kommentierte Ausgabe

Nach der Sichtung eines Teils des Editionsmanuskripts von Mein Kampf wurde schnell klar, dass ein großes Buchformat gebraucht werden würde, um die Edition leserfreundlich zu gestalten. Die umfangreichen Kommentare brauchen vor allem eines – Platz: Platz für eine geeignete Schriftgröße und Platz für komfortables Lesen. Dazu sind auch Weißräume unerlässlich. Um der kritischen Kommentierung auf den Seiten Raum zu geben, kam auch kein schlankes Buchformat infrage, sondern eine eher breitere, etwas stumpfere Proportion. Bei ersten Versuchen mit einem sehr großen Buchformat von 240 x 320 mm drängte sich indes der Eindruck auf, Hitlers Schrift könnte dadurch optisch zu stark aufgewertet werden. Deshalb wurde nach verschiedenen Versuchen, bei denen die Schriftgrößen jeweils mit angepasst wurden, das Format 210 x 280 mm gewählt – ein Format, das häufig für Sachbücher, aber auch für Magazine verwendet wird.

Die Schriftwahl für die Edition erschien zunächst nicht allzu schwierig. Den Hitler-Text in der Unger-Fraktur neu zu setzen (also nicht zu faksimilieren), erschien zu respektvoll gegenüber dem Originaltext und hätte zudem die Lesbarkeit gerade bei jüngeren Lesern behindert. Benötigt wurde eine gut lesbare und sachliche Schrift, die möglichst neutral wirkt. Zunächst wurde an die Trump-Antiqua gedacht. Bei den weiteren Recherchen stellte sich allerdings heraus, dass Georg Trump 1934 die Münchner Meisterschule für Deutschlands Buchdrucker übernommen hatte – ein Amt, in das er damals mit »freudig aufgenommenen Sieg-Heil-Rufen auf den Führer«461 eingeführt wurde. Diese Nähe zum Dritten Reich sollte auf keinen Fall hergestellt werden.

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Trump Mediäval, LinoLetter, Weidemann Book

Weitere Versuche und Überlegungen folgten mit LinoLetter, einer Zeitungsschrift aus den 1990er Jahren. Die Schrift ist gut lesbar und groß im Bild, aber für die Zwecke der Edition zu breit laufend. Biblica (Weidemann Book), eine Schrift für viel Text, die von dem bedeutenden Typografen Kurt Weidemann entworfen wurde, erschien hingegen zu spitz. Nach Versuchen mit etwa einem Dutzend weiterer Schriften wurde schließlich die Schrift Scala gewählt. Sie stammt von dem Niederländer Martin Majoor und wurde 1993 erstmals veröffentlicht. Majoors umfangreiche Erfahrungen nicht nur in der Typografie, sondern auch speziell in der digitalen Schriftentwicklung brachten eine »hybride« Schrift hervor; das heißt, dass es diese Schrift sowohl als Textschrift mit Serifen aber auch als Serifenlose gibt. Die Form der Scala-Serifenschrift geht auf Renaissance-Vorbilder zurück, ist aber im Duktus viel kräftiger und dadurch stilistisch neutraler. Da ihre formale Klarheit in der Serifenform und in der Serifenlosen hervorragend zusammenpasst, ist diese Schrift für das Editionsprojekt mit seinen verschiedenen Aufgaben mikrotypografischer Art sehr gut geeignet. Entscheidend für die Schriftwahl sind die Qualität der Lesbarkeit und der passende Charakter für dieses Werk. Verwendet werden für die Textvorlage Scala Serif Bold, für die Kapitel-Einleitungen Scala Sans sowie für die Kommentierung und die Textvarianten Scala Serif. [Nach zahlreichen Versuchen für Datenbank-basierte E-Books stellten wir fest, dass die Schrift Scala sich auch hierfür gut eignet.]

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Die drei verwendeten Schriftschnitte der Scala Serif und Scala Sans

Anordnung des Texts

Damit die Kommentierung innerhalb ihrer Zuordnung bequem gelesen werden kann, steht sie dicht bei der Textvorlage. Das geschieht jeweils auf einer Doppelseite, dort, wo mehr Platz benötigt wird, auch einmal auf einer zweiten Doppelseite. Auf dem rechten Blatt jeder Doppelseite wird jeweils eine Seite der Erstausgabe von Mein Kampf im originalen Seitenumbruch abgedruckt. Hinzu kommen die entsprechenden Kolumnentitel sowie die originale Paginierung, diese allerdings in eckigen Klammern. Daneben existiert eine davon unabhängige Paginierung für die gesamte Edition. Der Raster für die Einteilung des Texts basiert auf fünf Spalten, wobei immer zwei als Breite für die Kommentierung genommen werden und drei für die Textvorlage. Für die einzelnen Maße werden Zahlen aus der Proportionsreihe des Buchformats eingesetzt, um eine gestalterische Harmonie im Sinne der Lesbarkeit zu erreichen. Alle Distanzen sind aus der Seitenproportion 3 : 4 weitergerechnet und gerundet. [Diese Prinzipien wurden für die digitale Ausgabe nach Möglichkeit beibehalten. Die einzelnen Kommentare sind auf der linken Hälfte des Bildschirms zu finden und lassen sich dank der Scroll- und Schieberegler immer passend einstellen.]

Jedes Kapitel beginnt mit einer kurzen Einführung durch die Editoren. Die einzelnen Anmerkungen der Kommentierung sind um die Textvorlage angeordnet, sie orientieren sich an Hitlers Text und kreisen diesen gewissermaßen ein. Genügend Abstände erleichtern das Auffinden der einzelnen Anmerkungen. Ein wichtiges Prinzip [auch der digitalen Ausgabe] ist, dass die Texte komfortabel gesetzt werden; der gedrängte Anmerkungsapparat im Sinne einer »Bleiwüste« soll auf jeden Fall vermieden werden. Der Eindruck der einzelnen Seiten fällt entsprechend der jeweiligen Zahl und Länge der Kommentare sehr unterschiedlich aus.

Auch beim textkritischen Apparat muss der Leser nicht lange suchen, da sich diese Hinweise in einer eigenen Spalte möglichst auf der gleichen Zeilenhöhe direkt rechts neben der Textvorlage befinden. Im Text selbst sind diese Stellen mit dem Zeichen # markiert. In der Randnote wird der geän­derten Textstelle immer die Jahreszahl der jeweiligen Vergleichsausgabe von Mein Kampf vorausgestellt.

Äußere Gestaltung der Edition

Analog zur Originalausgabe von Mein Kampf umfasst auch die vorliegende Edition zwei Bände. Umfang, Größe und Gewicht der Edition und auch der Wunsch nach Haltbarkeit verlangen Stabilität. Deswegen wird für den Einband ganz traditionell ein Buchgewebe verwendet. Lesebänder helfen dem Benutzer beim Suchen und Finden bestimmter Seiten. Auch die Qualität des Papiers dient dem Komfort des Lesens wie auch der Haltbarkeit einer so umfangreichen Edition. In dieser Ausgabe wird auf ein leicht geglättetes Werkdruckpapier gedruckt, dessen Oberfläche leicht gelblich ist. Damit wird im Gegensatz zu hochweißen Oberflächen die Lesbarkeit der Texte erheblich gesteigert. Die Gestaltung des Titels erwächst aus dem Inhalt. Der Titel muss informieren, soll aber – im Gegensatz zu vielen kommerziellen Hitler-Büchern mit sehr dominanten visuellen Titeln – nicht »werben«. Auch deshalb wird auf einen Schutzumschlag verzichtet, stattdessen präsentiert sich die Edition in einem nüchternen Grau. Auch sonst ist die Ausstattung der Edition zurückhaltend. Im Vordergrund stehen die Prinzipien der Handhabbarkeit, der raschen und sicheren Benutzbarkeit und auch der Haltbarkeit. Alles andere, was dieser Edition auch nur entfernt jenen Charakter verleihen könnte, den das Original auszeichnete, wurde so weit wie möglich vermieden. War man im Dritten Reich bemüht, den Autor und den Inhalt durch solche Zusätze möglichst stark aufzuwerten, so soll bei dieser Edition vor allem der Inhalt im Mittelpunkt stehen; ihm allein soll die Aufmerksamkeit von Benutzer und Leser gelten. [Diese haptischen Fakten lassen sich leider nicht in eine digitale Ausgabe übertragen. Hier ist eine visuelle Zurückhaltung noch mehr als in der Druckausgabe angebracht.]